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Krisenzeiten - so erleben sie junge Menschen in Deutschland

Wie denken und fühlen junge Menschen in Krisenzeiten? Reporter des Magazins MUT sind durch Deutschland gereist, haben Stimmen und Stimmungen gesammelt. PZ-news.de präsentiert die 15 Interviews hier im Internetformat.

Texte: Rike Uhlenkamp Bilder: Rainer Kwiotek

Das Magazin MUT mit vielen weiteren spannenden Themen wie zum Beispiel über vier Grenadiere, die sich im Baltikum auf einen Angriff Russlands vorbereiten, liegt der PZ-Ausgabe am Samstag, 30. September, kostenlos bei.

Ich würde meine Familie und die Gesellschaft verteidigen.“

Parzival

Parzival Rau Freiherr von Nagell, 20, bringt Kindern das Boxen bei.









„Es gibt keinen Menschen, den ich so geliebt und so gefürchtet habe wie meinen Vater. Er war Fallschirmjäger und Major. Sein Ton war hart, und er hat auch zu Hause durchgegriffen. Ich selbst wurde in meiner Jugend extrem aggressiv. Ein paarmal musste die Polizei eingreifen, mehrmals wechselte ich die Schule. Ich war 15, als er starb. Ich zog zu meiner Tante. Als sie und ihr Mann merkten, dass ich die Schule schwänzte und kiffte, schickten sie mich zum Sport. Bei Mefit boxte ich gegen einen, der prügelte mich windelweich.

Ich dachte danach: „Alter, das will ich auch so gut können!“

Beim Boxtraining lernte ich, Emotionen zu kontrollieren und viel über Respekt. Selbst wenn man sich auf die Fresse haut, gibt man sich danach die Hand. Um solche Erfahrungen zu sammeln, fänd ich´s gut, wenn in den Schulen Selbstverteidigung unterrichtet würde. Gäbe es in Deutschland noch eine Wehrpflicht, hätte ich damit kein Problem. Im Notfall würde ich auch für mein Land in den Krieg ziehen und meine Familie und die Gesellschaft verteidigen. Auch wenn in Deutschland vieles nicht rund läuft, lohnt es sich, unsere Demokratie und das Sozialsystem zu schützen.

Ich glaube, ein Problem in Deutschland ist die fehlende Kommunikation. Eltern reden nicht mit ihren Kindern, Kinder nicht mit ihren Eltern. Lehrer nicht mit ihren Schülern. Ein politisches Lager nicht mit dem anderen.

Inzwischen bin ich Boxlehrer und versuche schon beim Kindertraining, meinen Schülern beizubringen, offen miteinander umzugehen. Wenn ich sie erreichen kann, eine Entwicklung im Boxen und auch menschlich sehe, macht mich das stolz.“

Parzival Rau Freiherr von Nagell, 20, bringt Kindern das Boxen bei.

Alicia

Alicia Werner, 20. Engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr Pettstadt bei Bamberg.

„Ich finde, jeder junge Mensch sollte nach der Schule ein Pflichtjahr machen. Das verschafft ihm die Chance, auf eigenen Füßen zu stehen, und hilft einzuschätzen, wo er später beruflich hingehört. Vielleicht gefällt ihm die Bundeswehr mega gut oder ein sozialer Beruf. Ich glaube, einige würden sich dann später auch für ein Ehrenamt entscheiden. Zum Beispiel für eines in der Feuerwehr.

Ich bin dabei, seit ich denken kann. Mein Vater hat die Jugendfeuerwehr geleitet und mich immer mitgenommen. Heute betreue ich selbst unseren Nachwuchs. Das macht Riesenspaß. Wir üben, wie man sich im Ernstfall einsetzt und dabei selbst schützt, zündeln auch schon mal ein Feuer, das fachgerecht gelöscht werden muss, und zeigen, wie man Menschen aus einem Unfallauto rettet. Es ist cool, dass ich mein Wissen und meine Erfahrung weitergeben kann. Ich versuche, Vorbild für die Jüngeren zu sein, ihnen auch eine gewisse Haltung beizubringen: Ist man in der Feuerwehr, baut man keinen Scheiß.

Wenn ich mir die Uniform anziehe, fühle ich mich stärker. Ich bin stolz, zu dieser Gruppe zu gehören. Bei ihr finde ich Halt. Ich kann mich auf jeden verlassen, denn die Solidarität ist groß.

Dieser Zusammenhalt fehlt oft in Deutschland. Manchmal denke ich, es wäre toll, wenn die Menschen mehr füreinander einstünden, wie in der Kleinstadt, in der ich seit meiner Geburt lebe. Irgendwann werde ich mir hier ein Haus kaufen – und meine Kinder natürlich mit zur Feuerwehr nehmen. Mit der Familie im Rücken fällt ein Ehrenamt leichter.“



Viele Ältere meinen, Klimawandel sei nicht ihr Ding. Wie ignorant!“

Quentin

Quentin Gärtner, 15, ist Schüler der 10. Klasse am Salier-Schulzentrum in Waiblingen.

„Mein Traum? Bundeskanzler will ich werden! Ich bin eine Rampensau, und wer wie ich hoch hinaus will, träumt nicht gerade von Kommunalpolitik. Ich war schon früh politisch interessiert, doch kritisch hinterfragt habe ich nicht wirklich. Alles, was meine Eltern gesagt haben, war wie von Gott gegeben. Mit zwölf habe ich mich von ihren konservativen Ansichten emanzipiert.

Viele Ältere meinen, Klimawandel sei nicht ihr Ding. Wie ignorant! Wer ist denn verantwortlich? Wenn ich die Macht hätte, würde ich ein echtes Klimapaket schnüren und kein Päckchen wie bisher. Das habe ich auch in meiner Rede auf einer Friday-for-Future-Demo in Stuttgart vor 30.000 Menschen gefordert. Dazu gehört, dass wir erneuerbare Energien viel stärker ausbauen, Inlandsflüge verbieten und in die Bahn statt in Autobahnen investieren.

Was viele nicht verstehen: Unsere Wirtschaft ist abhängig von einem stabilen Klima. Jeden Cent, den wir jetzt nicht in Klimaschutz investieren, werden wir in wenigen Jahrzehnten teuer bezahlen.

Ein anderes Thema, das mich bewegt, ist die Krise an unseren Schulen: veraltete Lehrpläne, kaputte Klassenzimmer, Lehrermangel. Außerdem muss der Unterricht digitaler werden. Die Möglichkeiten, sich über das Internet zu bilden, sind unbegrenzt. Auf YouTube gibt es ganze Vorlesungen von Universitäten wie Harvard. Bei Wikipedia kann ich mich immer weiter reinklicken, tiefer einsteigen.

Andererseits habe ich Angst vor Künstlicher Intelligenz. Ich bin damit aufgewachsen, dass Intelligenz mein Vorteil ist. Aber durch KI verliert sie doch an Wert. Das bedroht mich. Einen IQ-Test will ich nicht machen. Könnte sein, dass ich doch dumm oder nur Durchschnitt bin. Da gehe ich lieber zur Uni. Neben der Schule studiere ich da jetzt schon technische Biologie.“



Die Politik hat's verbockt. Jetzt schieben sie die Verantwortung ab.“

Elisa

Elisa Draht, 19, arbeitet in Berlin an einer Bewerbungsmappe für ihr Studium. Sie möchte Fotografin werden.

„Wo man hinguckt, läuft es scheiße: Krieg und Krisen. Doch dass über ein soziales Pflichtjahr diskutiert wird, find ich bescheuert! Und über Wehrpflicht sowieso: Junge Menschen zwingen, für ihr Land zu sterben, ist nicht gerechtfertigt.

Ich will mit meinen Bildern etwas bewegen. Zum Beispiel für Obdachlose, die ich freiwillig begleite und dabei ihr Umfeld dokumentiere. Viele schauen im Alltag weg oder die Menschen angeekelt an. Dass sie viel lesen, Bücher bei sich tragen, das denken die meisten nicht.

Schon dreist, dass die Politik, die es verbockt hat, die Verantwortung für sie auf Ehrenamtliche schieben will! Die Politiker sollten stattdessen dafür sorgen, dass keiner mehr auf der Straße steht und Pflegekräfte anständig bezahlt werden.

Wer in Kliniken und Altersheimen die Lücken mit Jugendlichen stopft, sorgt dafür, dass sich nichts am kaputten System ändert.“



Ich will Menschen ermutigen. Egal ob sie blind sind oder im Rollstuhl sitzen.“



Belal

Belal Mahmoud, 24, leidet an Muskeldystrophie. In seinen Songs rappt sich der Berliner seinen Frust von der Seele.

„Jemand wie ich, der im Rolli sitzt, hat’s schwer. Bordsteine sind oft zu hoch, Aufzüge immer mal wieder defekt und Abstände zwischen Waggons und Bahnsteigen manchmal gefährlich groß. Das regt mich auf!

Doch statt mich endlos zu ärgern, rappe ich lieber, schreibe Songs über Dinge, die mir nahegehen: Corona oder wie ich an Berliner Bahnhöfen strande. Ich will Menschen ermutigen und zeigen, dass sie viel erreichen können, egal ob sie gesund oder blind sind oder im Rollstuhl sitzen. Ich möchte Vorbild sein! Statt wie andere Rapper, beleidige ich niemanden. Ich mag es, mit meinen Songs Geschichten zu erzählen. Ich singe über meinen Alltag.

Meine Videos und Songs bringe ich auf Tik- Tok und Instagram. Oder ich trete bei Stadtfesten und Weihnachtfeiern auf. Dieses Jahr war ich schon im Fernsehen zu sehen, bei der Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“. War ein tolles Erlebnis, dass ich wie alle anderen mitmachen konnte, obwohl ich noch nie laufen konnte und meine Muskeln schwinden.

Neben der Musik arbeite ich in einer Fördergruppe: Wir bauen Vogelhäuser, stellen Kerzen und Schmuck her. Ich mag die Gemeinschaft dort, aber am liebsten würde ich was machen, wo Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Im Kopf bin ich ja fit.“



Der Jahrmarkt ist meine Welt. Ich will Freude schenken.“

Henry

Henry Voss, 17, will Schausteller werden wie seine Eltern. Vorher macht er eine Elektrikerlehre in Nürnberg.

„Wir verkaufen Glück. Wenn ein Vater bei uns einen Teddy angelt, leuchten die Augen seines Kindes. Gerade in Krisenzeiten muss man auch mal Spaß haben. Nach Ausbruch des Ukrainekriegs durften Geflüchtete auf vielen Karussells umsonst mitfahren. So schenkt man Freude.

Corona war für uns Schausteller eine harte Zeit. Allein der Hamburger Dom fiel mehrere Male aus, unsere Haupteinnahmequelle. Als wir endlich aufmachen durften, wussten wir nicht, ob überhaupt jemand kommt. Jetzt habe ich Angst vor einer neuen Pandemie. Affenpocken oder so was. Meine Eltern stünden ohne Kirmes vor dem Nichts. Sie besitzen kein Haus, sind 365 Tage im Jahr unterwegs und haben nie was anderes gemacht. Deshalb hab ich eine Elektrikerlehre angefangen. Als mögliche Notlösung.

Aber am liebsten würd ich das Geschäft meiner Eltern übernehmen. Der Jahrmarkt ist meine Welt. Für die Ausbildung muss ich bei meinen Großeltern in Lüneburg wohnen. Nach fünf Tagen juckt es mir schon wieder in den Fingern, und ich will los zum Volksfest! Freude schenken.“



Deutscher oder Syrer – Hauptsache, ich bin Mensch.“

Miral

Miral Tahi, 20, floh mit seine Familie aus Nordsyrien nach Deutschland. In Bremen macht er heute eine Ausbildung als Metallbauer.

„Zu sehen, wie Familien die Ukraine verlassen müssen, macht mich traurig. Ich weiß, wie sie sich fühlen.

Ich war zwölf, als ich mit meinen Eltern und meiner Schwester über die Türkei, Griechenland und sieben andere Länder fliehen musste. Meist zu Fuß. Zwei Monate waren wir unterwegs.

In Bremen anzukommen war, wie ein zweites Mal geboren werden. Alles war neu: die Stadt, die Menschen, die Kultur. Der Jugendclub in der Nachbarschaft wurde mein Zuhause. Nicole, eine der Leiterinnen (Foto links), ist bis heute wie eine Mutter für mich. Sie hat mir zugehört, mit mir Billard gezockt, bei meiner Bewerbung geholfen.

Ich geh nicht nach Syrien zurück. Dort würden sie mich ins Militär stecken. Deutschland ist meine Heimat geworden. Aber es macht für mich keinen Unterschied, ob ich Deutscher bin oder Syrer oder Kurde. Hauptsache, ich bin Mensch. Einer, der keinen Krieg mag. Egal wer recht oder unrecht hat: Er tötet viele Unschuldige. Deshalb sollte sich Deutschland aus dem Krieg raushalten. Wer Waffen liefert, der pustet schon ins Feuer.“



Rechte Parolen sind bei uns inzwischen alltäglich.“

Jakob

Jakob Springfeld, 21, aus Zwickau engagiert sich gegen Rassismus und Rechtsradikale. Über seine Erfahrungen hat er ein Buch geschrieben. Titel: „Unter Nazis“.

„Als ich fünfzehn war, lernte ich Mostafa aus Afghanistan kennen, der etwa so alt war wie ich. Auf der Flucht nach Deutschland ertrank seine Schwester im Mittelmeer. Seitdem engagiere ich mich für und mit Menschen wie Mostafa. Doch als ich in einem Pulli mit der Aufschrift „Refugees welcome“ durch Zwickau lief, schrie mich ein älterer Mann an: „Zieh den aus, du Zecke!“ Auf einer Demo in Chemnitz gegen rechte Gewalt landete ein von Neonazis geworfener Böller direkt neben mir.

Das NSU-Kerntrio lebte eine Zeit lang unerkannt in Zwickau und plante Morde. Für jedes ihrer zehn Opfer wurde ein Baum gepflanzt. Dass gleich der erste abgesägt wurde, hat mich nicht überrascht. Als er erneuert und neun weitere gepflanzt wurden, hielt ich eine Rede. Auch Angela Merkel war da.

Spätestens zu dem Zeitpunkt war ich allen in der Stadt bekannt, wurde auf offener Straße angespuckt, online mit Mord bedroht. Irgendwann traute ich mich abends nicht mehr allein raus. Mit Freunden hab ich eine Chatgruppe eingerichtet, über die wir uns gegenseitig warnen.

Ich sehe natürlich auch Gründe, warum Parteien wie die AfD bei uns so viele Anhänger finden. In der DDR wurde Rassismus totgeschwiegen. Nach der Wende folgten zahllose Lebensumbrüche, verstärkt durch hohe Arbeitslosigkeit und massive Ungleichheit zwischen neuen und alten Bundesländern. Doch es gibt mittlerweile eine extreme Normalisierung von rechten Einstellungen, und wo Rassismus zum Alltag wird, muss man gegenhalten.

Mein Opa, der noch die Hitlerzeit erlebt hat, konnte sich nie vorstellen, dass Nazis in Deutschland wieder die Macht übernehmen könnten. Heute ist er sich nicht mehr sicher.“



Ich bin kein Tierquäler. Meine Lieblingskuh heißt Rosemary.“

Finn

Finn Lüschen-Strudthoff, 20, ist Landwirt bei Oldenburg und zeigt auf YouTube und Instagram seinen Alltag als Milchbauer.

„Wenn ich abends aus dem Stall komme, weiß ich, dass ich meinen Kühen was Gutes getan habe. Wir halten 135, aber ich erkenne jede. Mein Liebling ist Rosemary, der musste ich bei einer Zwillingsgeburt helfen, als meine Eltern auf der Grünen Woche waren. Eines lag verkehrt, das musste ich drehen. Aber alles ging gut.

Wir könnten mehr Tiere halten, aber so wie bisher geht’s ihnen besser. Ich seh nicht ein, auf Bio umzustellen. Da verdienst du durch Fördermittel, statt mit dem, was du anbaust. Außerdem darfst du weder Chemie noch Kunstdünger einsetzen. Doch um profitabel zu wirtschaften, musst du dieselben Mengen bei gleicher Qualität produzieren. Das geht nicht.

Ich mach mir Sorgen um die Zukunft unserer Branche. Wie viele Betriebe wird es in zehn Jahren noch geben? Wer muss wegen zu vieler Auflagen aufgeben? Dann übernehmen Agrarkonzerne die Anbauflächen, und das will keiner: weder die Politik noch die Klimaschützer.

Klar, gerade wir Bauern spüren den Klimawandel: die heißen Sommer, zu wenig Regen. Deshalb haben wir Solarpaneele auf die Dächer montiert und nutzen unsere Kühe zum Energiesparen. Ihre Milch, die mit 40 Grad aus dem Euter kommt, fließt durch eine Anlage, die unser Brauchwasser erwärmt.

Schon krass, dass viele Menschen kaum Ahnung haben, wie ihre Lebensmittel entstehen. Deshalb erzählen wir davon auf YouTube und Instagram. Angesagt sind Themen wie Ernte, Klauenpflege oder Melkroboter. Wir zeigen unseren Alltag und dass wir weder Tierquäler sind noch das Klima zerstören.

Einigen wär’s am liebsten, wir würden wieder mit Pferd und Pflug über den Acker laufen. Dass wir es sind, die sie ernähren, vergessen sie gern.“



Integration ist nicht einseitig.“

Ahmad

Ahmad Alo, 20, lebt in Mülheim an der Ruhr und studiert Physik. In seiner Freizeit klettert er mit Geflüchteten.

„Beim Klettern vergisst man Probleme und Sorgen, deshalb gehe ich mit Geflüchteten in die Kletterhalle. Früher kamen sie aus dem Irak und Syrien. Heute aus der Ukraine. Wir, das Trainerteam, sind Eritreer, Deutsche, Syrer. Alle miteinander sprechen wir Deutsch, damit es die Neuen schneller lernen und einen besseren Start haben als ich.

Ich war 13, als ich in Deutschland ankam. Die ersten drei Jahre waren schwer. Daheim in Aleppo war ich einer der Besten in der Schule, hier einer der Schlechtesten. Erst als ich Freunde fand, die mich nicht als Geflüchteten wahrnahmen, sondern als Menschen, wurde es besser. Inzwischen studiere ich Physik. Später will ich Professor werden.

Ich finde, es sollte Inklusion statt Integration heißen. Wir sind doch Teil der Gesellschaft, wie jeder, der hier geboren ist. Deshalb sollten sich nicht allein Ankömmlinge anpassen, sondern auch die Gesellschaft an sie. Ich genieße die Freiheiten als Individuum, die in Deutschland größer sind als in Aleppo. Andererseits finde ich es seltsam, dass hier viele Ältere nicht zu Hause leben. Das würde in Syrien nicht passieren. Dort werden sie bis zum Ende von der Familie gepflegt.

Denn das gilt doch für uns alle: Wer sich ausgeschlossen und alleingelassen fühlt, kann ebenso viel Stress erleben wie ein Kind, das im Krieg geboren wird, oder eins, das in Armut aufwächst.“



Angst vor der Zukunft feuert mich an!“

Tabea

Tabea Pelz, 20, macht im Wattenmeer von Westerhever einen Bundesfreiwilligendienst.

„Wenn der Meeresspiegel steigt, sind zuerst die Salzwiesen weg, ebenso das Leuchtturmhäuschen, in dem ich derzeit wohne. Eine Vorstellung, die Angst macht. Doch die lähmt mich nicht, sie feuert mich eher an. Ich setze auf viele junge Menschen, die sich engagieren, nachhaltiger leben und für den Klimaschutz eintreten.

Ich versuche, auf Führungen zu zeigen, wie wertvoll das Watt für uns alle ist. Den meisten Besuchern erscheint es ja erst mal nur als riesiger Haufen Matschepampe.

Aber es ist Lebensraum unfassbar vieler Arten, darunter bis zu 60.000 Wattschnecken – auf nur einem Quadratmeter! Millionen Zugvögel nutzen das Watt als Rast- und Futterplatz. Viele Fische als Laichgrund. Solche Einblicke lassen meine Gäste staunen und nachdenken.

So gesehen wäre ein Dienstjahr nach Schule oder Lehre für alle gut. Ob Krankenhaus oder Naturschutz, jeder bringt sich ein mit dem, wozu er Lust hat und was gebraucht wird, und lernt dazu. Das kann auch auf Krisen vorbereiten: Nach einem Jahr im Krankenhausdienst weiß ich, wie’s da läuft. Statt verpflichtend, sollte es für junge Menschen schmackhaft gemacht werden: freie Bahnfahrten für Freiwillige einführen zum Beispiel. Wie für Soldaten. Das hilft auch gegen den Klimawandel!“



Ideologie siegt übers Bürgerwohl.“

Philipp

Philipp Brunner, 21, studiert BWL und spielt Golf in einem Club bei Wiesbaden.

„Auch wenn ich im Golfclub bin, gehör ich nicht zu den Bonzen, für die Geld keine Rolle spielt. Die Inflation spüre auch ich, unter anderem an den Spritpreisen. Und den Menschen, die weniger haben als ich, auch noch eine teure Heizung aufbürden, damit siegt doch Ideologie übers Bürgerwohl!

Ebenso spaltet man die Gesellschaft, wenn man den Missstand von fehlenden Frauen in Führungspositionen plötzlich durch eine Quote beheben will. Natürlich sollen sie aufsteigen, aber aufgrund ihrer Leistung, nicht wegen eines Befehls von oben. Da fehlt die Akzeptanz.

Solche Konflikte gibt’s immer mehr. Vor allem in meiner Generation merkt man die Brüche: wo manche krass revolutionär agieren und Leute wie ich nicht verstehen, warum Straßen blockiert werden, auf denen Menschen zur Arbeit fahren und die Gesellschaft am Laufen halten. Ich frage mich, bis wohin eine Gemeinschaft das mittragen muss?!

Ich glaube, ein Dienstjahr im Altenheim oder der Bundeswehr würde uns einander näherbringen. Sitzt du mit anderen im selben Panzer, ist es egal, ob du links, rechts, arm oder reich bist. Alle müssten miteinander klarkommen und Verständnis füreinander aufbringen.“



Dass die AfD immer mehr Stimmen bekommt, macht mich fassungslos.“

Leon

Leon Marhöfer, 15, ist jüdisch und in der Jugendarbeit seiner Gemeinde in Mannheim aktiv.

„Ich bin stolz, Jude zu sein, und find es wichtig, meinen Glauben zu erklären. Denn Reden löst Vorurteile, und Antisemitismus hat sich gewandelt. Vielen geht’s nicht mehr darum, dass man reich ist oder eine große Nase hat, sondern was in Israel passiert. Doch nur weil ich Jude bin, muss ich mich nicht mit Israel auskennen. Ich bin fünfzehn und will mich noch gar nicht mit dem Nahostkonflikt beschäftigen müssen, sondern mit meinen Leuten in der Gemeinde eine gute Zeit haben. Mit ihnen teile ich Sorgen und Hoffnungen. Sie sind wie eine Familie.

Krassen Antisemitismus hab ich noch nicht erlebt, dumme Sprüche schon. Einmal nannte mich jemand „Leon, mein Lieblingsjude“. Der Typ hat sich nichts dabei gedacht, das fand ich trotzdem daneben. Kann sein, dass ich weniger antisemitisch angemacht werde, weil ich schwarz bin. Hört sich komisch an, aber jüdisch und zugleich schwarz zu sein, das kriegen viele nicht zusammen.

Dass die AfD immer mehr Stimmen bekommt, das macht mich fassungslos. Die lassen doch so crazy rassistischen Shit raus! Zu viele Menschen suchen bei denen, was ihnen persönlich gerade in den Kram passt, ohne sich mit dem üblen Rest zu beschäftigen. Das ist beängstigend!

Nach dem Anschlag in Halle saß ich in der Synagoge und hab überlegt, was ich machen würde, wenn so etwas bei uns passieren würde. Wie könnte ich uns alle retten? Wo hinrennen und sich verstecken? Solche Gedanken möchte man sich nicht machen müssen.“



Nur auf der Bühne ist Hass erlaubt.“

Sarah



Sarah Rölli, 20, studiert Operngesang an der Folkwang Uni in Essen.



„Um eine Rolle authentisch rüberzubringen, ihre Gefühle und Ansichten, muss ich die Hintergründe der Oper verstehen, den Komponisten, die Zeit, in der sie geschrieben wurde. Ich lese Bücher, schaue Filme. Und lerne dabei viel mehr als in jeder Geschichtsstunde!

Mit 15 Jahren wurde ich Teil des Kinder-Opernchors des Theaters in Bonn. Dort hab ich schon früh erlebt, was Gemeinschaft bedeutet. Da zählt nicht, ob man arm oder reich ist, ob autistisch, schwul oder lesbisch, da gehört man zusammen und lässt niemanden im Stich. Das spornt an.

Unsere Chorleiterin ist Russin. Obwohl sie sich für Frieden und Toleranz engagiert, erhält sie seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine Hassmails: „Geh doch zurück nach Russland zu deinem Putin“, heißt es. Das finde ich hart! Sie macht sich Sorgen um ihre Neffen, die dort zum Kriegsdienst gezwungen werden. Und wenn sie fliehen, schlägt ihnen bei uns Hass entgegen. Dabei sind sie auch Opfer der Diktatur.

Ich mag keinen Krieg, keinen Streit. Außer auf der Bühne. Da darf man das. Um zu verstehen.“



Irgendjemand muss ja Kontra geben!“

Nathalie

Nathalie Neumann, 20, will für Zittau ein Jugendparlament, das im Rathaus tagt.

„In einer Stadt, in der jeder Dritte die AfD gewählt hat, stehe ich links, zeige mich offen lesbisch und hab den Christopher Street Day nach Zittau geholt. Dass ich bedroht werde, nehm ich mir nicht mehr zu Herzen. Irgendjemand muss ja Kontra geben!

Das Gefühl, etwas zu bewegen, treibt mich an. Vor zwei Jahren hab ich mit Freunden eine Jugendinitiative gestartet. Zittau muss für junge Leute attraktiver werden, dazu gehört, dass sie mitbestimmen. Unser Ziel: ein Jugendparlament, das im Rathaus tagt!

Ich bin Mitglied bei den Linken. Die Partei setzt sich für soziale Themen ein, die mir wichtig sind. Sollte sie sich aber gegen eine Unterstützung der Ukraine aussprechen, müsste ich meine Mitgliedschaft überdenken. Teile des Landes werden nach dieser ganzen Scheiße komplett zerstört sein. Davor graut mir. Ich will nach dem Krieg, den die Ukraine hoffentlich gewinnt, helfen, das Land wieder aufzubauen.

Für mein Lehramtsstudium muss ich Zittau verlassen. Ich werde aber wieder zurückkehren. Auch um einigen Menschen hier weiterhin auf die Nerven zu gehen.“