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25 Jahre nach dem verheerenden Tag

"Lothar"

Der Sturm, der bleibt

"Sowas habe ich nie wieder gesehen", sagt Oliver Pfrommer, der als Rettungsassistent zusammen mit einem Notarzt im Einsatz war. Auch Uwe Schickedanz von der Regionalen Wetterberatung des Deutschen Wetterdiensts in Stuttgart ist sich sicher: "Wir hatten seither nichts Vergleichbares." Sturm „Lothar“ hat am 26. Dezember 1999 in einem bis dato ungeahnten Ausmaß gewütet. Bis heute, knapp 25 Jahre danach, ist die Erinnerung bei vielen Menschen noch genau präsent.

Wir haben dann sogar Feuerwehrleute abgestellt, die die ganze Zeit die Bäume beobachtet haben.

Oliver Pfrommer war am Zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 als Rettungsassistent unter anderem auf der A8 im Einsatz.

Kapitel 1

Das Wetter-Ereignis

So ist Sturm "Lothar" entstanden

Auch beim Deutschen Wetterdienst ging "Lothar" als extrem in die Geschichte ein. Doch wieso traf diese Naturgewalt die Menschen damals so unvorhergesehen? Und auf welche Ereignisse muss sich Pforzheim und die Region 25 Jahre nach „Lothar“ vorbereiten?

Wie Uwe Schickedanz, Leiter der Regionalen Wetterberatung des Deutschen Wetterdiensts (DWD) in Stuttgart, sagt, gelte "Lothar" wegen der erreichten Spitzenwerte auch heute noch als außergewöhnlich.

"Lothar" wütet mit Windgeschwindigkeiten um 200 Kilometer pro Stunde im Bergland. Doch auch in flacher gelegenen Regionen misst der DWD teils Geschwindigkeiten von 150 Kilometern pro Stunde. "Wir sprechen ab 140 von einem extremen Orkan", sagt Schickedanz.

"Lothar" habe unter anderem Windmesser beschädigt und Stromkabel zerfetzt. Auch in Freudenstadt habe die Wetterstation eine Windgeschwindigkeit von 140 Kilometern pro Stunde gemessen.

Wie auf diesem Satellitenbild zu sehen, liegt der Kern des Tiefdruckgebiets am Mittag des 26. Dezembers über der Mitte Deutschlands, das stärkste Sturmfeld ist auf der Südseite über Süddeutschland zu sehen.

Ein Rückblick auf das Geschehen: In der Nacht von 25. auf 26. Dezember entsteht das Tiefdruckgebiet vor Neufundland. Uwe Schickedanz erklärt:

Dort gab es einen derartigen Luftdruck-Abfall, dass die Systeme den Wert aussortiert haben. In keinem Modell war der Sturm so stark prognostiziert, wie er letztendlich war.

"Lothar" zieht gen Osten Richtung Frankreich, und auch in der Bretagne wird in den frühen Morgenstunden starker Druckabfall gemessen. Erst dann wird klar: Die Messungen zuvor waren kein Fehler.

Gegen 7 Uhr geben die Meteorologen des DWD in Baden-Württemberg eine Unwetterwarnung heraus. Doch diese vier Stunden Vorlauf sind für viele Menschen an einem Feiertag zu wenig Zeit, um sich vorzubereiten. Bald liegt der Kern des großen Sturmtiefs über Skandinavien. Doch das Gefährliche ist das Randtief, im Kern sind die Böen weniger stark. "Wir waren direkt auf der Südseite des Randtiefs", sagt der Leiter der Regionalen Wetterberatung. Die Ausläufer des Tiefdruckgebiets reichen von Südhessen bis in die Südschweiz.

In gerade einmal einer Stunde mäht der Orkan alles nieder, was ihm in den Weg kommt, erinnert sich Schickedanz:

Das stärkste Windfeld hat den Westen Baden-Württembergs um 11 Uhr erreicht und den Osten gegen 12 Uhr verlassen.
Es deutet manches darauf hin, dass der Klimawandel nicht zu einer Häufigkeit der Stürme führt.

Denn: "Der Jetstream lebt von Temperaturunterschieden", erklärt Uwe Schickedanz den Strom, der in rund zehn Kilometern Höhe das Wettergeschehen mitbestimmt. Durch eine stärkere Erwärmung in der Polarregion und eine schwächere Erwärmung weiter südlich könne diese Differenz geringer ausfallen. Abschließend geklärt sei das aber noch nicht.

Trotzdem warnt Schickedanz vor der globalen Bedrohung des Klimawandels: Regenfälle und Hitze nehmen deutlich zu. "Auch die Gewitter werden heftiger." Pforzheim sei zudem stark gefährdet für Hochwasser. Denn die drei Flüsse Enz, Nagold und Würm würden aus dem niederschlagsreichen Schwarzwald gespeist: "Das ganze Wasser wird dann in die Stadt transportiert."

Kapitel 2

Protokoll der schlimmen Erinnerungen

Menschen aus der Region schildern ihre Erlebnisse vom 26. Dezember 1999

Wie jeden Sonntag schlüpft Silvia Bächlein (Foto: Symbolbild) auch am 26. Dezember 1999 in ihre Laufschuhe. Gleich ist es 10.45 Uhr und ihre Freundin steht vor der Tür. Gemeinsam wollen sie eine Runde um Büchenbronn joggen und auf den Aussichtsturm steigen.

Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag. Menschen besuchen ihre Familien, gehen spazieren. Die meisten haben frei – in Öfen schmort Fleisch.

Auch Silvia Bächlein will am Nachmittag die Rouladen ihrer Mutter – einer begnadeten Köchin – genießen. Im Radio hörte sie am morgen von Regen. Also zieht sie eine dünne Jogginghose an, damit der Stoff vom Wasser nicht schwer wird, und streift ihre türkisgrüne Regenjacke über.

Draußen vor der Tür bemerkt Silvia Bächlein eine seltsame Ruhe. Kein Vogel singt, kein Rabe krächzt. Der Hund des Nachbarn hat sich, wie sie später erfährt, gerade in den Keller verkrochen. Dass ein Orkan mit über 150 Stundenkilometern auf den Nordschwarzwald zurast und in ein paar Minuten Abermillionen Bäume wie Zahnstocher zerbersten, ahnt Silvia Bächlein nicht. Also machen sie sich auf den Weg Richtung Wald – in die Hölle.

Wenig später: Silvia Bächlein und ihre Freundin entscheiden sich, doch nicht in den Wald zu joggen. Bedrohlich weich wirken die Fichten und Tannen im starken Wind. Bedrohlich tief neigen sich die Spitzen der Nadelbäume nach links und rechts.

Ein kleiner Umweg durch ein weniger bewaldetes Stück sollte trotzdem möglich sein, vereinbaren sie. Doch der Wind wird stärker, das Rauschen ohrenbetäubend und erst leise, dann immer lauter, kracht es. Baumstämme geben nach und schlagen um Silvia Bächlein und ihre Freundin dumpf auf den Waldboden.

Wie Mikadostäbe versperren sie immer wieder den Weg. Und dann rennen sie los. Nach hinten schauen sie nicht. Nur raus aus dem Waldstück, auf eine Straße ohne Bäume.

Im Ort werden sie in Sicherheit sein, denkt Silvia Bächlein. Doch als sie die ersten Häuser sehen und wie Dachziegel von Dächern prasseln, steigt der Adrenalinspiegel weiter an. Wie Soldaten eilen sie immer dicht gedrängt an Hauswänden entlang Richtung zu Hause.

Silvia Bächlein schafft es unbeschadet nach Hause. Der Sturm wütet weiter. Einer benachbarten Firma wird das Asbestdach abgerissen. Noch am Nachmittag helfen Bekannte ihrer Familie, das stark beschädigte Dach des eignen Hauses wenigstens halbwegs winterfest zu machen. Als Dank bekommen sie die Rouladen ihrer Mutter









Gerhard Deißler



von der Bergwacht Schwarzwald, Ortsgruppe Pforzheim. Als "Lothar" die Region traf, war Deißler Vorsitzender der Bergwacht Pforzheim.

Die Weihnachtstage vor dem Orkan verliefen bei dem 15-jährigen Marco Ehnis aus Neuhausen und seiner Familie ganz normal (Foto: Symbolbild). Die Cousine seiner Mutter samt Familie ist für den zweiten Weihnachtsfeiertag zum Mittagessen eingeladen, und das Festmahl sorgfältig geplant: eine große, schöne Gans.

Am Morgen des 26. Dezembers herrscht Vorbereitungsstress in der Familie. Gemüse wird geschält, geschnippelt und gekocht, die Gans vorbereitet und in den Ofen geschoben. Der Besuch ist bereits da, aber die Gans noch nicht fertig, als der Sturm draußen immer stärker wird. Plötzlich fällt der Strom aus.

Im Haus breitet sich eine Mischung aus Panik und Hektik aus. Marco Ehnis Familie hat eine Hobbytierhaltung in einer alten Scheune und zwei Pferde, die auf einer Koppel zwischen Hamberg und Neuhausen stehen.

Marco Ehnis wird von seiner Familie beauftragt, die Pferde von der Koppel in die Scheune zu bringen (Foto: Symbolbild). Der Weg über das offene Feld ist knapp einen Kilometer lang, aber der ungebremste Sturm macht es schwierig. Der Wind peitscht den Regen wie Nadelstiche in sein Gesicht, und die beiden nervösen Pferde am Halfter erschweren die Aufgabe zusätzlich. Nach gefühlten anderthalb Stunden erreicht er erschöpft die Scheune und versucht, die aufgebrachten Pferde zu beruhigen.

Plötzlich reißt ihn ein lautes Geräusch aus dem Moment: Ein Quadratmeter des Scheunendachs wurde durch den Sturm aufgerissen. Um größere Schäden zu vermeiden, muss schnell gehandelt werden. Marco hat die Idee, das Dach trotz des Sturms alleine und sofort zu reparieren. Zum Glück trifft in diesem Moment sein Onkel auf dem Hof ein, um nach dem Elternhaus zu schauen. Gemeinsam reparieren sie das Scheunendach. Marco reicht die Ziegel, die sein Onkel von innen in das Dach einfügt.

Marco Ehnis beruhigt die nervösen Pferde weiter mit Heu und Karotten. Das Scheunendach ist geflickt und mit privaten Notstromaggregaten überbrückt seine Familie die regelmäßigen Stromausfälle, die auch noch Tage nach dem Orkan immer wieder auftreten.

Karlheinz Glück



war am 26. Dezember 1999 Einsatzleiter bei der Bergwacht Pforzheim.

Frank Winterfeldt ist Sachbearbeiter beim Katastrophenschutz der Stadt Pforzheim und beim Technischen Hilfswerk. Als sein Funkmeldeempfänger laut zum Einsatz piept, steht er mit seiner Frau in der Küche. Sie wollen Lachs braten. Gleich kommen Gäste.

Er hat am Morgen im Südwestrundfunk gehört, dass über Paris ein Sturm wütet. Dächer würden abgedeckt, in der ganzen Stadt herrsche Chaos. Auch Tote habe es in Frankreich gegeben. Beiläufig hieß es im Radio, der Sturm ziehe nun gen Osten, Richtung Baden-Württemberg. Daran erinnert er sich.

Dann sprintet er zu seinem Auto und fährt zur Einsatzstelle des THW auf der Wilferdinger Höhe. Später wird der Deutsche Wetterdienst von allen Seiten für die schlechte Warnung kritisiert. Das System um Wetterinformationen wird daraufhin modernisiert.

Frank Winterfeldt verteilt sich mit etwa 20 Kollegen auf mehrere Fahrzeuge. Er selbst sitzt in einem Gerätekraftwagen. Der Feuerwehrfunk ertönt in den Fahrzeugen. Auf der A8 herrsche Chaos. Mehrere Personen seien Richtung Heimsheim schwer verunglückt. Umstürzende Bäume blockieren die Fahrbahn.

Auf Höhe der Ausfahrt Pforzheim-Ost kommen den Einsatzfahrzeugen des THW plötzlich Autos entgegen. Weil ein paar Kilometer weiter nichts mehr vorankommt, drehen einige Autofahrer einfach um und fahren auf Winterfeldt und seine Kollegen zu. Das THW verlangsamt den Verkehr hinter ihnen, blockiert die Straße und leitet die entgegenkommenden Fahrzeuge über die Autobahnauffahrt in die Stadt. Auch dort brechen Bäume ab, Baugerüste werden weggeweht, und Ziegel zerschellen auf Asphalt.

Er beobachtet die Bäume am Autobahnrand. Der Wind ist so stark, dass ganze Holzblöcke über die Autobahn geweht werden, quer über vier Spuren. Surreal, denkt er.

Frank Winterfeldt fährt mit seinen Kollegen in die Hauptwache der Feuerwehr Pforzheim. Mit einem schnell eingerichteten Führungsstab koordiniert er noch die ganze Nacht Hilfseinsätze und Rettungsaktionen in der Region. Am nächsten Morgen fällt er nach einer durchgearbeiteten Nacht müde ins Bett.

Volker Velten war damals Feuerwehr-Kommandant in Pforzheim. Er hat der "Pforzheimer Zeitung" seinen Redebeitrag vom ökumenischen Gottesdienst anlässlich des zehnten "Lothar"-Jahrestags 2009 zur Verfügung gestellt:

"26. Dezember 1999. Der zweite Weihnachtsfeiertag ist noch keine 10 Stunden alt, da lassen erste Sturmwarnungen im Radio aufhorchen. Die meisten Menschen nehmen es gelassen und pflegen ihre Traditionen: Kirchgang, Verwandtenbesuch, Mittagessen für die Familie vorbereiten.

Gegen 11.20 Uhr sinkt der Luftdruck schnell ab, Schwankungen in den Stromnetzen werden registriert, erste Sturmböen in den Höhenlagen der Stadt sind wahrnehmbar. Die Feuerwehrleitstelle richtet routinemäßig den Verstärkungsdienst ein und führt Verständigungen von verantwortlichen Funktionsträgern durch.

Kurz vor 12 Uhr (Mittag) legt es los; das Orkantief Lothar breitet sich von Frankreichs Atlantikküste kommend über weite Teile Westeuropas aus.

In Pforzheim erreicht der Orkan Windstärke 14 (mehr als 150 Kilometer pro Stunde) und verbreitet Angst und Schrecken. Zahlreiche Menschen werden bei Spaziergängen im Wald oder bei der Fahrt mit dem Auto überrascht. In der Folge sind Tote und Verletzte zu beklagen. Viele Personen „stranden“ in den Feuerwehrhäusern der Stadtteile und müssen betreut, verpflegt und medizinisch versorgt werden.

Gigantische Waldflächen werden nahezu gerodet, die umgestürzten Bäume türmen sich teilweise meterhoch. Straßen und Wege werden für Wochen und Monate durch umliegende Bäume blockiert. Dächer werden abgedeckt, Masten umgeworfen, Hütten und Gärten zerstört, Autos werden zerquetscht, Bahnlinien unpassierbar, der Autoverkehr kommt teilweise zum Erliegen, Stromausfälle führen zu Behinderungen des privaten und öffentlichen Lebens.

Für die Feuerwehr und die Hilfsorganisationen wird Großalarm ausgelöst. Die Polizei zieht alle verfügbaren, dienstfreien Kräfte ein. Ein mehrtägiger Einsatz erfordert kurz vor der Jahrtausendwende von allen Beteiligten die volle Hingabe, teilweise bis zur Erschöpfung. Helferinnen und Helfer sämtlich verfügbarer Dienste geben alles, mitunter müssen lebensbedrohliche Aktionen überstanden werden, sie alle bleiben unverletzt – Gott sei Dank!

Nach circa einer Stunde ist der Spuk vorbei: Orkan Lothar ist weiter gezogen und hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, deren Spuren noch heute in unseren Wäldern sichtbar sind. Er verursachte einer der größten Einsätze aller Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben in Baden-Württemberg. Den Einsatzkräften gebührt von daher auch noch nach zehn Jahren ein großes Lob, sich trotz Feiertagsstimmung in den Dienst für die Allgemeinheit gestellt zu haben; ihren Angehörigen gilt ein herzliches Dankeschön für ihren zwangsläufigen Verzicht und ihr Verständnis."

Zeitzeugin















Jeanette

Holborn-Schuck



war mit ihren Kindern im Garten, als der Sturm begann.

Der Sturm forderte über 110 Menschenleben. Die meisten Menschen starben Tage nach dem Sturm, bei Aufräumarbeiten oder Spaziergängen. Die geschätzten Schäden liegen über zehn Milliarden Euro und machen den Orkan auch heute noch zu einem der weltweit teuersten Versicherungsfälle.

In Baden-Württemberg fegte er innerhalb weniger Stunden 30 Millionen Festmeter Holz um – eine Menge, für die die Forstwirtschaft normalerweise drei Jahre braucht. Bei Karlsruhe erreichten die Winde Geschwindigkeiten von 150 Kilometer pro Stunde. Auf dem Feldberg im Schwarzwald wurden Böen mit 212 Kilometern pro Stunde gemessen, bevor die Messstation ausfiel.

Auf der A8 bei Pforzheim wurden bei zwei Unfällen durch umstürzende Bäume zwei Männer getötet. Eine Frau wurde zwischen Enzklösterle und Simmersfeld getötet. Eine weitere Frau verlor bei Calmbach ihr Leben.

Kapitel 3

Der zerstörte Wald

Das Chaos wieder zu Forst gemacht

Der erste Anblick an einem Steilhang machte mich sprachlos. Eine komplett gepflegte Forstfläche war nur noch ein einziger, riesiger Trümmerhaufen.

Martin Fischer, der frühere Revierleiter Neuhausen/Tiefenbronn und jetzige Verwaltungsleiter des Enzkreis-Forstamts

Blick aus dem Heli nach den Aufräumarbeiten: Der Hang zwischen Pforzheimer Straße und Seehausstraße bei Tiefenbronn (links). Am selben Hang ein Vierteljahrhundert später: Im Wesentlichen durch Naturverjüngung ist hier wieder ein dichter Wald vorzufinden (rechts).

Schnell wird klar: Die unvorstellbaren Naturkräfte haben im Wald stellenweise brachial gewütet, haben ganze Hänge zum Spielball der Naturgewalten gemacht. Dort, wo einst Wander- und Wirtschaftswege im Forst waren, erkennt man gar nichts mehr. Wild durcheinandergewürfelt, einem riesigen Mikado-Chaos gleichend, präsentiert sich der Wald als apokalyptisches Horrorszenario. Der Förster verspürt Herzschmerz beim traurigen Anblick und weiß: Hier wartet harte Arbeit für Monate – nur um aufzuräumen. Um wieder einen Wald hochzuziehen, wird es viele Jahre dauern.

Martin Fischer,









der frühere Revierleiter Neuhausen/Tiefenbronn und jetzige Verwaltungsleiter des Enzkreis-Forstamts

Fischer und seinen Kollegen ist von der ersten Minute an klar: Von dem Wirrwarr im Wald gehen erhebliche Gefahren aus. Für Neugierige und Wanderer sind die Schadlagen tabu. Mehr noch: Die unter enormer Spannung stehenden, kunterbunt zusammengewürfelten Stämme sind mit allerhöchster Vorsicht anzugehen. Fischer: "Mich interessierte von Anfang an vor allen Dingen eines, bloß keine Verluste an Menschenleben bei den Aufräumarbeiten. Das erste Gebot hieß Sicherheit."

Später wird den Experten klar, wie massiv der Sturm tatsächlich in kurzer Zeit gewütet hat. Befliegungen durch Hubschrauber lassen das ganze Schadensausmaß deutlich werden. Wobei das geübte Auge der Forstexperten so gut ist, dass sich die Schätzungen vom Heli aus später mit den tatsächlich registrierten Schadfestmetern erstaunlich decken. Fischer ist beeindruckt, was damals geleistet wurde: "Das war eine klasse Mannschaftsleistung." Als Vorteil habe sich erwiesen, erinnert sich Fischer, dass er damals unkonventionell und unbürokratisch vorgegangen sei, um rasch und präzise die Arbeiten zu forcieren. Selbst von Belgien seien die Lastwagen angerückt.

Beim Vor-Ort-Termin am alten Katastrophenhang zwischen Seehausstraße und Pforzheimer Straße im Tiefenbronner Forstrevier sieht man – wie so oft – im Wald eben zunächst nur Bäume. Am Stammumfang allerdings erkennt man rasch: Die Exemplare dort sind alle noch vergleichsweise jung. Doch der Waldboden ist übersäht mit alten, vermoosten Wurzelstämmen. Hier ist in kurzer Zeit viel passiert, so hat es den Anschein. Und richtig: Die Förster haben dort nach dem Aufräumen im Wesentlichen zunächst die Gunst der Naturverjüngung genutzt.

An der Stelle muss man wissen: "Lothar" war ein Sturm von einem gänzlich anderen Kaliber als seine Vorgänger 1990, die Orkane Vivian und Wiebke. Die richteten zwar auch viel Schaden an. Aber oftmals dort, wo der Sturm leichtes Spiel hatte, weil er nicht standortgerechte Bäume leicht entwurzeln konnte. Bei "Lothar" war das anders, was ihm in den Weg kam, wurde komplett umgemäht, auch wenn die Eiche fest am richtigen Platz stand.

Naturgemäß wollte die Forstwirtschaft die katastrophenbedingten Lücken schnell füllen. Naturverjüngung stand deshalb im Vordergrund. Stellenweise wurde auch mit bestimmten Baumarten gezielt wieder aufgeforstet.

Immer im Blick im Enzkreis: ein gesunder Mischwald. Mittlerweile geht die Entwicklung in die nächste Phase. Kam früher hoch, was sich durchsetzte, helfen längst die Förster nach, was sich am Ende durchsetzen soll, denn aufgrund der Klimakrise greift die Konzeption des klimastabilen Waldumbaus, wie der Leiter des Reviers Neuhausen/Tiefenbronn, Simon Häuber, direkt im Forst erläutert. Die Forstwirtschaft hat ihre priorisierten Pflanzen bereits markiert: Es sind die Zukunftspflanzen, kurz Z-Bäume.

Simon Häuber,









der heutige Revierleiter Neuhausen/Tiefenbronn.

Toll ist, dass wir 25 Jahre nach ,Lothar' wieder in einem echten Wald stehen können.

Enzkreis-Forstamtsleiter Andreas Roth (links, mit PZ-Redakteur Peter Marx): Das dürfe einen mit Fug und Recht nicht nur stolz, sondern auch optimistisch machen, was die Bewältigung von Klimafolgen angehe. Allerdings seien die Zeiträume größer.

Der Leiter des Enzkreis-Forstamts, Andreas Roth, sagt klar, welche Bäume die Förster priorisieren: Eichen, Roteichen, Bergahorn, Tanne und Douglasie (im Bild). Natürlich blieben im Sinne des Mischwaldkonzepts am Ende auch Birken, Buchen, Kiefern und Fichten, aber eben in deutlich geringerer Zahl. In der konkreten, standortgerechten und klimastabilen Steuerung der Baumartenanteile liege das Erfolgsrezept, unterstreicht Roth im Hintergrundgespräch in Tiefenbronn.

Herunterspielen will Roth die Folgen keinesfalls. Im Gegenteil. Im Revier Tiefenbronn etwa habe der Sturm so massiv gewütet, dass bezogen auf den Kommunalwald das Zehnfache des jährlichen Einschlags einfach in Minuten umgemäht worden sei. Auch in Neuhausen, Neuenbürg, Birkenfeld oder im Hagenschieß seien die Folgen zum Teil verheerend gewesen. Aber auch Illingen habe es massiv erwischt, bilanziert Roth. Die Folgen seien so krass gewesen, dass die Aufräumarbeiten zum Teil bis ins Jahr 2022 hinein angedauert hätten. In Tiefenbronn seien bis zu 50 Prozent des Kommunalwaldes voll oder in Teilen betroffen gewesen. Davon habe sich der Hiebsatz bis heute nicht erholt.

Kapitel 4

Hoch hinaus – aber sicher

Können Türme in der Region einem Orkan trotzen?

Es weht nur leichter Wind an diesem Dienstagmittag auf Bad Wildbads Sommerberg. Eher ein Lüftchen. Dafür ist es eisig, als Matthias Gütersloh, Projektmanager der Erlebnis Akademie AG aus dem Bayerischen Wald, mit der PZ über den geschlossenen Baumwipfelpfad durch eine zarte Neuschneedecke stapft. Kein Wetter, das den Experten für Freizeitanlagen mit Lust an der Höhe nervös macht. Schon gar nicht beim Blick auf den 40-Meter-Turm, der am Ende des Pfades in die Schneewolken ragt.

Für die Windlasten, die das Holzgebilde mit seinen Stahlstreben, Druck- und Zugstangen aushalten muss, ist mit Orkanstärken gerechnet worden. Seile und Widerhaken für das Fundament reichen elf Meter tief in den Boden. Christian Kremer, der Marketingchef der Erlebnis Akademie, hatte beim Bau 2014 selbstbewusst verkündet, die Anlage hoch über Bad Wildbad würde auch Böen von über 500 Stundenkilometern standhalten. Lothar hoch zwei, gewissermaßen.

Wir haben praktisch nur ein Fachwerk, das viel Wind durchlässt, der Druck auf ein geschlossenes Hochhaus wäre viel größer.“

Matthias Gütersloh von der Erlebnis Akademie mit Blick auf die offene Bauweise der Konstruktion.

Das ist wie beim Zahnarzt: Wenn etwas faul ist, muss es sofort raus.

Matthias Gütersloh erklärt, dass Mitarbeiter auf dem Sommerberg täglich die Holzbohlen anschauen. Einmal im Monat wird die Konstruktion von unten begutachtet, dann sind auch Schrauben im Blick.

Und wenn am Baumwipfelpfad der Wind gewaltig pfeift? Dann greift ein Sicherheitsprotokoll. Wenn Böen schneller sind als 70 Stundenkilometer, würden die Mitarbeiter Besucher nach unten begleiten. Nicht aus Sorge um die Standhaftigkeit der Anlage, betont Gütersloh. Dann zeigt er auf die Baumriesen ringsum: "Aber wir sind hier mitten im Wald und müssen bei Sturm damit rechnen, dass Äste durch die Luft gewirbelt werden."

Die Firma betreibt viele Pfade wie auf dem Sommerberg. Der schwerste Sturm, den sie bislang überstehen mussten? Darüber muss Gütersloh nachdenken. Dann nennt er den Baumwipfelpfad im österreichischen Salzkammergut. 2018, als die Anlage gerade mal zwei Monate alt war, kam dort ein Sturm aus einer völlig ungewohnten Richtung auf. Fast in "Lothar"-Stärke – mit Orkanspitzen von an die 200 Stundenkilometer, erzählt er. Der Sturm habe Hunderte Hektar Wald gefällt. Auch an den Geländern des nagelneuen Baumwipfelpfads habe es Schäden gegeben. Aber der Turm stand wie eine Eins. "Das hält die Konstruktion aus", sagt Gütersloh.

Und was ist mit anderen hohen Gebäuden in der Region? Der Sparkassen-Turm in Pforzheim etwa. Der ragt sogar 75 Meter in die Höhe. Als der verheerende, für einige Menschen tödliche Orkan "Lothar" am Zweiten Weihnachtsfeiertag über die Region hinwegfegt, steht der Koloss aus Beton und Stahl noch als Skelett mitten in der Stadt. Noch ohne jedes Glas. Schäden trägt er bei seiner Sturmtaufe nicht davon.

Ein Faktor: seine runde Form. Die verdanke das stadtbildprägende Gebäude auch dem Wind, heißt es von der Sparkasse Pforzheim Calw. Die Rundung der heutigen 3350-Quadratmeter-Glasfassade würden starken Böen den geringsten Widerstand bieten. Und während die äußere Glashülle Schutz bietet, können die meisten der 581 Fenster in der inneren Fassade auch bei starkem Wind geöffnet werden.

Jeder Turm bewegt sich mit den Elementen. Würde er das nicht, müssten irgendwann Bauteile brechen.

Matthias Gütersloh, Projektmanager der Erlebnis Akademie für den Baumwipfelpfad Bad Wildbad

Türme bewegen sich außerdem im Wind. Beim Sparkassenturm passiert das aber nur im einstelligen Zentimeterbereich. Außerdem lastet nicht alles auf einem Punkt. Die 5000 Tonnen der Stockwerke sechs bis 16 trägt ein fast zwei Meter dicker Abfangtisch über dem 5. Stock. Von dort aus führen Stützen abwärts und verteilen die Lasten aufs Fundament.

Der hölzerne Riese auf dem Sommerberg bewegt sich ein bisschen mehr mit den Elementen, sagt Gütersloh. 20 Zentimeter und teils ein bisschen mehr, schätzt er, seien es auf 40 Metern Höhe – dort wo dieser Turm ungewöhnlicherweise am breitesten ist. Das gibt den Besuchern eine enorm große Galerie, um in den Nordschwarzwald zu blicken. Aber die Form, die einem Schwarzwaldbecher nachempfunden ist, sorgt für einen hohen Schwerpunkt im Gebäude. Und weil die Kräfte oben nach außen wirken, bewegt sich die Konstruktion auch ohne Wind ein wenig, verrät Gütersloh.

Die haben einfach gut gebaut.

Jürgen Schlechtendahl, Architekt und Bauexperte des Evangelischen Oberkirchenrats Baden zur Kirchenbaukunst im Mittelalter: Er ist dort der Verantwortliche für den Bereich Kirchenbau.

Aber vieles ist einfach eine Frage von wachen Augen auf die Konstruktionen. So macht das auch die Kirche. Viele ihrer Türme sind im Mittelalter errichtet worden – ganz ohne moderne Statiker. Seit Jahrhunderten trotzen sie Stürmen. Auch solchen wie "Lothar". Schlechtendahl erzählt, wie die Kirchengemeinden als Eigentümer in die Kontrolle der Bauwerke eingebunden werden. Oft jährlich, spätestens alle zwei Jahre schauen sich Gemeindemitglieder die Kirchen gründlich an.

"Die sind natürlich keine Statiker, aber wenn ihnen zum Beispiel Risse Sorgen machen, melden sie uns das", sagt Schlechtendahl: "Dann geht ein Sachverständiger raus und überprüft das." Manchmal sind Schäden offensichtlich, wie zuletzt in Bauschlott. Dort ist die Kirche gesperrt worden und der Oberkirchenrat arbeitet an einem Sanierungskonzept. Alle sechs Jahre schauen sich die Experten selbst jede Kirche an.

Kapitel 5

Feuerwehr und Katastrophenschutz

Was können wir aus Orkan "Lothar" lernen?

Gerade seit dem Ahrtal wird sehr sorgfältig gewarnt und ich sehe die Gefahr einer gewissen Abnutzung – aber es ist am Ende ein Dilemma.

Sebastian Fischer, Leiter der Feuerwehr Pforzheim

Ich habe 'Lothar' als ehrenamtliche Einsatzkraft erlebt. Ich war damals noch nicht so viele Jahre im aktiven Dienst, erst seit 1997 und davor in der Jugendfeuerwehr. Ich war in der Leitstelle Esslingen eingesetzt, um Notrufe entgegenzunehmen. Denn 'Lothar' war wenige Tage vor dem Milleniumswechsel und gerade bei den Sicherheitsbehörden hat man einige Vorkehrungen getroffen, um sich darauf vorzubereiten. Die unterschiedlichsten Szenarien standen im Raum: Fallen die Computer aus? Überleben die den Datumssprung? Aus dem Grund hat man damals verstärkt Ehrenamtliche ausgebildet. Ich gehörte dazu, um auch zum Beispiel bei einem Totalabsturz der Leitstelle unterstützen zu können. Gebraucht haben wir das Konzept dann vier Tage vorher.

Sebastian Fischer

457 Einsatzstellen ...

... gab es laut Feuerwehr-Berichten bei "Lothar" 1999 im Pforzheimer Stadtgebiet.

Man darf bestimmte Konzepte nicht erst dann hinter dem Ofen hervorkramen, wenn die Welt völlig zusammenbricht, dann ist gar keine Routine da. Man darf aber auch nicht mit zu hochtrabenden Konzepten auf ganz kleine Lagen reagieren.

Sebastian Fischer

"'Lothar' – der Sturm, der bleibt"

Die Mitwirkenden

Danksagung und Rechte

Idee: Lea Eiting

Text: Lea Eiting, Leon Malik Koss, Peter Marx, Alexander Heilemann, Julia Falk

Gestaltung: Julia Falk

Fotos: Lucas Röhr, Thomas Meyer, Georg Moritz, Gerhard Ketterl, Sebastian Seibel, picture-alliance/ dpa | Patrick Pleul, picture alliance/dpa | Thomas Warnack, picture alliance/dpa | Henning Kaiser, picture alliance/dpa | Jens Büttner, Manfred Richter - stock.adobe.com, Filip Olejowski - stock.adobe.com, SusaZoom - stock.adobe.com, Animaflora PicsStock, Kai-Uwe Nerding/DWD, Amt für Stadtklima Stuttgart, Frey

Videos: Lucas Röhr, Thomas Meyer, Franziska Wiest, Eduard Schüle, Bergwacht Pforzheim



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