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20 Jahre Orkan Lothar

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Er wütete vor 20 Jahren: Der Orkan Lothar




Es war der zweite Weihnachtsfeiertag 1999: Menschen in der Region hatten sich nichtsahnend auf einen festlich gedeckten Tisch gefreut, als ein mächtiges Sturmtief von Frankreich her über den Nordschwarzwald zog - und eine Schneise der Verwüstung hinterließ. Orkan Lothar war einer der schlimmsten Stürme der vergangenen 100 Jahre. Er richtete in Pforzheim, dem Enzkreis und dem Kreis Calw nicht nur enorme Schäden an, sondern forderte auch vier Tote in der Region. 






Wie ist es, wenn man als Ersthelfer an einer Unfallstelle Menschen zu Hilfe eilen muss? Was hatte die Feuerwehr an diesem Tag zu tun? Welchen Herausforderungen muss sich ein Bürgermeister nach einer solchen Naturkatastrophe stellen? Und welche Auswirkungen hat solch ein enorm starker Sturm auf eine Redaktion einer Tageszeitung? Zum 20. Jahrestag des Orkans haben Zeitzeugen ihre Erlebnisse vom 26. Dezember 1999 im Gespräch mit der "Pforzheimer Zeitung" geschildert. 



Die Aufnahmen enstehen kurz nach dem Sturm von Neuhausen in Richtung Schellbronn.
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So erleben vier Menschen den Morgen vor dem Orkan

Kälte, Regen, vereinzelt Schnee

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Er kam am Mittag aus Frankreich, und er kam für die meisten Menschen überraschend. Die Wettervorhersage für den 26. Dezember 1999 war nicht außergewöhnlich für einen Dezembertag: Kälte, Regen, vereinzelt Schnee. 

Dass ein Orkan mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 215 Stundenkilometern vom Nordatlantik kommend über Frankreich, Süddeutschland, die Schweiz und Teile Österreichs ziehen wird, ahnte an diesem Morgen noch niemand. Entsprechende Prognosen gab es nämlich keine. Frühwarnsysteme hatten genau an diesem Tag versagt.

In der Abbildung des Deutschen Wetterdienstes (DWD) ist der Verlauf des Luftdrucks an der Station Karlsruhe dargestellt. Man erkennt deutlich den starken Luftdruckfall vom 25. auf den 26. Dezember 1999. Dies ist laut DWD seit Beginn der Beobachtungen in Karlsruhe der stärkste Druckabfall, der bisher gemessen wurde.

*zumindest im allgemeinen Sprachgebrauch, denn in Wirklichkeit fand die Jahrtausendwende erst zwischen dem 31. Dezember 2000 und dem 1. Januar 2001 statt.  

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Der Tag beginnt mit einem wunderschönen Regenbogen und endet im Krankenhaus. Die damals 64-jährige Mutter Elfriede L. (Name von der Redaktion geändert) ist mit ihrer Familie auf der B294 zwischen Simmersfeld und Calmbach auf dem Weg in ein Restaurant, als der Orkan Lothar am 26. Dezember 1999 dort eine Tote und viele Verletzte forderte. Die Familienmutter ahnt nicht, dass ein so schöner Dezembertag in so einem schrecklichen Erlebnis für sie enden würde. 
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Als der Orkan Lothar über die Region hereinbricht, ist Klaus Buchinger Einsatzleiter der Freiwilligen Feuerwehr in Schellbronn. Die Vorboten eines Unwetters, die der damals 44-Jährige beim Spaziergang mit seinem Hund bemerkt, sollten für ihn in einem nahezu 24 Stunden andauernden Einsatz gipfeln.
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In einer Redaktion einer Tageszeitung kann es schon einmal heiß hergehen. Doch dass der zweite Weihnachtsfeiertag 1999 für PZ-Redakteur Olaf Lorch-Gerstenmaier nervenaufreibender als sonst werden sollte, realisiert der damals 37-jährige Journalist an diesem Morgen erst, als er fast von einem durch die Luft fliegenden Blechteil getroffen wird.
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Hans Schabert ist mit seiner Partnerin auf dem Weg zu deren Eltern, als der Orkan Lothar über die Region fegt. Schlussendlich steckt der ehemalige Bürgermeister von Neuweiler bei Fremden in Aichelberg fest. Von dort aus versucht er, Kontakt mit seiner Gemeinde aufzunehmen und er sorgt sich auch um die Wasserversorgung im Nordschwarzwald, für die er damals mitverantwortlich ist.
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Was bleibt, sind die Erinnerungen

In etwa sechs Stunden, zwischen 11 und 17 Uhr, wird Deutschland auf einer Strecke vom Saarland bis zur Oberlausitz von Lothar überquert.

Die Spitzenböen erreichen laut dem Wetterdienst Kachelmannwetter teilweise unglaubliche Werte - besonders in Baden-Württemberg. Auf dem Feldberg im Schwarzwald setzt das Messgerät demnach bei weit über 200 Kilometer pro Stunde aus, in Karlsruhe werden 153 Kilometer pro Stunde gemessen, kurze Zeit später auf dem Wendelstein in Bayern sogar 259 Kilometer pro Stunde.

Das Video zeigt die Anfänge des Orkans in Hamberg in Richtung Schellbronner Wald. 





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Todesopfer und kleine Wunder auf der B294

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Das vollbesetzte Auto der Familie L., in dem auch Elfriede L. sitzt, wird am Mittag des 26. Dezembers 1999 auf der B294 zwischen Calmbach und Simmersfeld durch einen herabfallenden Baum komplett zerstört. Vier von fünf Insassen werden verletzt. Nur Elfriede L. bleibt unverletzt.

Wenige Sekunden später und nur wenige Meter entfernt, kracht ein weiterer Baum auf die Straße und trifft ebenfalls ein Auto, das kurz zuvor bereits durch herabfallende Bäume zum Stehen gezwungen wurde. Die Mutter, die gemeinsam mit ihren beiden Kindern und ihrem Ehemann unterwegs war, stirbt sofort. Die Kinder bleiben unverletzt.

Für Elfriede L. beginnen in diesen Minuten langwierige Stunden des Wartens. Sie kümmert sich um die drei und fünf Jahre alten Kinder, die gerade ihre Mutter verloren hatten, und umsorgt ihre eigene Familie. Was sie kurz nach den Unfällen noch nicht weiß: Insgesamt vier Stunden muss Elfriede L. gemeinsam mit den Verletzten auf Hilfe warten. Erst dann kommen Feuerwehr und Rettungsdienst nach einem langen Kampf gegen den Sturm und seine Ausmaße an der Unglücksstelle an.
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Nicht der einzige tödliche Unfall in der Region. Lothar überrascht zahlreiche Fußgänger und Autofahrer - auch auf der A8 bei Pforzheim. Dort trifft es bei zwei Unfällen durch umstürzende Bäume einen 27-jährigen Aalener und einen 55-jährigen Ettlinger. 

Auf der L350 zwischen Enzklösterle und Simmersfeld wird ebenfalls eine Frau in einem Auto von einem Baum erschlagen.

In Deutschland und fünf weiteren Ländern fordert Lothar insgesamt 110 Menschenleben. In Baden-Württemberg sterben insgesamt neun Menschen, 25 weitere in den Monaten danach bei Waldarbeiten.
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Die vernichtende Stärke des Orkans

"Geschüttelt wie von einer Riesenfaust"

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"Immer heftiger peitschten um die Mittagszeit Regengüsse über die Straßen. Umgestürzte kleinere Blumenkübel und bedrohlich schwankende Verkehrsschilder ließen nichts Gutes ahnen. Autos wurden von den Böen geschüttelt wie von einer Riesenfaust."

Mit diesen Worten führt Olaf Lorch-Gerstenmaier in seinen PZ-Artikel zu den Geschehnissen rund um den Orkan Lothar ein. Der Artikel wird am 27. Dezember 1999 veröffentlicht. Stunden zuvor unterhält sich der Redakteur mit zahlreichen Einsatzleitern - von der Polizei oder auch dem THW. 

"Die Schäden gehen in die Millionen. Abgedeckte Dächer auch in Ispringen und Grunbach; eingestürzte Kamine; Stromausfälle in Neulingen, Engelsbrand, Niefern-Öschelbronn (siehe Foto), Wiernsheim, Schömberg, Neuenbürg; eingeschlossene Autos, deren Fahrer entnervt ausstiegen und sich den Weg durch den Äste-Dschungel bahnten."

Auch in Pforzheim sind die Einsatzkräfte im Dauereinsatz. In der Feuerleitstelle gehen seit 11.30 Uhr mehrere Hundert Notfälle ein. Nur die dringlichsten Notfälle werden sofort bearbeitet. Auch Gebäude am Leopoldplatz - im Herzen der Goldstadt - sind in Mitleidenschaft gezogen worden.

Allein den versicherten Schaden beziffert der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft bundesweit auf rund 800 Millionen Euro.







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Der 1940 erbaute Tabaktrockenschuppen in Nußbaum gilt neben der über 700 Jahre alten Kirche St. Stephan als zweites Wahrzeichen des Dorfes - zumindest bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag 1999, als Orkan Lothar das Wahrzeichen vollständig zerstört. 
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Welch enorme Schäden der Orkan anrichtet, zeigen Originalaufnahmen - aufgenommen kurz nach dem Sturm zwischen Neuhausen und Schellbronn.

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Ein Bild der Verwüstung hinterlässt Lothar auch in den Wäldern in Pforzheim, im Enzkreis und im Kreis Calw. Sie gehören damals noch der Forstdirektion Freiburg an. Wo vorher stolze Bäume standen, bilden sich innerhalb weniger Stunden tiefe Schneisen. Ganze Waldstücke werden einfach abrasiert.
  • 120.000 Überstunden leisten das staatliche Forstpersonal im Bereich der Forstdirektion Freiburg.
  • 210 zusätzliche Förster werden im Bereich der Forstdirektion Freiburg eingesetzt.
  • 2,6 Millionen Kubikmeter Holz gehen per Bahn, Schiff oder Lkw in den Fernabsatz.
  • 22.000 Hektar Kahlflächen entstehen im Bereich der Forstdirektion Freiburg.
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20 Jahre danach: Hatte Orkan Lothar auch positive Seiten?

Für Andreas Wacker sind die Orkanschäden die größte Herausforderung seines (beruflichen) Lebens. Der Leiter des Forstreviers Calmbach, zu dem auch der Sommerberg gehört, schildert, wie sich die Naturkatastrophe auf den Forst ausgewirkt hat - und warum Lothar auch seine guten Seiten hatte.
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Wie war die Bilanz nach dem Orkan?
"Im Bereich des Forstamtes Bad Wildbad hatten wir 300.000 Festmeter Sturmholz. Davon fielen 90.000 im Bad Wildbader Stadtwald an. Der Rest im Staatswald. Die größten Sturmwurfflächen waren entlang der B296 zwischen Calmbach und Oberreichenbach und auf der Meisternebene. Letztendlich waren alle Hochlagen betroffen. Vor dem zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 hatte es lange Zeit geregnet. Die Böden waren aufgequollen und die Bäume konnten sich nicht mehr halten. Schnell bildeten wir einen Krisenstab im Calmbacher Feuerwehrhaus."

Wie hat sich der Wald seither verändert?
"Viele Flächen, die damals gefallen sind, waren mit Fichten bepflanzt. Die Fichte wächst bei uns gut, wir brauchen sie, sie ist ein Wirtschaftsbaum. Aber sie passt zu vielen Bereichen bei uns nicht. Auf feuchten nassen Flächen, wie beispielsweise auf der Sommerberghochebene, muss die Fichte nicht tief wurzeln. Wenn dann ein solcher Sturm kommt, wird sie schnell umgedrückt. Orkan Lothar hat uns letztendlich die Gebiete gezeigt, wo die Fichte nicht hingehört. Wir hatten im Stadtwald nach dem Orkan 290 Hektar Freifläche. Nur einen kleinen Teil davon haben wir wieder bepflanzt. Die anderen Bereiche haben wir der Natur überlassen. Zuerst sind dort Pionierbaumarten wie die Birke oder die Kiefer gewachsen. Inzwischen sind Weißtannen und Buchen nachgezogen, die vorher im Schatten anderer Bäume standen. Und genau das sind die Bäume, die da hingehören. Der Bestand ist nun stabiler."

Hatte Orkan Lothar also letztendlich auch seine guten Seiten?
"Ja! Es sind viele Kahlflächen entstanden, die für das Auerwild wichtig sind. Plötzlich wuchsen dort wieder Heidelbeeren. Viele Flächen konnten wir gar nicht aufarbeiten, weil der Sturm das Holz so kaputt gemacht hat, dass man es nicht mehr verwerten konnte. Dieses Holz haben wir liegenlassen und das war für den Naturschutz ideal."
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Dass Lothar Schäden auch in der Natur hinterlassen hat, ist nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 vor allem am Rande der Straße zwischen Grunbach und Büchenbronn zu sehen. Die linke Aufnahme entsteht nur wenige Tage nach dem Orkan. 

Die gleiche Stelle zehn Jahre später: Wo Ende 1999 nur noch vereinzelte Bäume stehen, ist ein Jahrzehnt später wieder ein Wald gewachsen. 

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Die Ausmaße Lothars - im Forst, an beschädigten Gebäuden, Autos und vielem mehr - sind mittlerweile vielerorts nicht mehr mit bloßem Auge erkennbar. Doch die Spuren in den Köpfen der Menschen, die an diesem Tag Schreckliches erlebt haben, bleiben.   

In Dobel wurde im Jahr 2000 ein Gedenkkreuz - das sogenannte Lotharkreuz - aufgestellt. Es soll an die Opfer des Tages erinnern. 
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Technische Umsetzung der Multimedia-Reportage: Julia Wessinger

Text: 
Julia Wessinger, Nicole Biesinger, Dennis Krivec und dpa

Fotos: Georg Moritz, Gerhard Ketterl, PZ-Archiv, Harald Wessinger, Elfriede L., Peter Dietrich, Kreisarchiv Calw

Videos: Dominik Türschmann, Julia Wessinger, Dennis Krivec, Georg Moritz, Elfriede Hauf-Kopp und Judith Weitzel

Videoschnitt: Dominik Türschmann

Musik: Rafael Krux, bensound.com


An dieser Stelle bedanken wir uns recht herzlich für alle Einsendungen der PZ-Leser und für die große Unterstützung.
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