D-Zug am Himmel
Der 10. Juli 1968 D-Zug am Himmel, Dramen am Boden
Das AusmaßWas der Tornado mitreißt
Zwei Menschen kommen ums Leben.
Mehr als 300 Menschen werden verletzt, davon 80 schwer.
3713 Gebäude werden beschädigt.
Der Schaden beträgt weit über 100 Millionen D-Mark.
Über 150 Menschen werden obdachlos.
Die letzten Minuten, bevor der Tornado auf die Region trifft
Ein Sommertag, der so anders ist als die anderen
So haben viele Augenzeugen die Atmosphäre am Nachmittag vor dem Tornado am 10. Juli 1968 beschrieben. Es sind Zeugen aus Ittersbach, Ottenhausen-Rudmersbach (Foto aus dem Jahr 1979), Gräfenhausen, Pforzheim und Neubärental.
Und dann kam dieses unfassbare Geräusch – als würde ein Güterzug in nächster Nähe vorbeirasen...
Von Frankreich in Richtung GoldstadtDer lange Weg des tödlichen Wirbels
Um 20.45 Uhr wird das gewaltige Naturschauspiel bei Pfaffenhofen gesehen. Auf einer Strecke von etwa 60 Kilometern richtet der Tornado erhebliche Forstschäden an.
Noch in Frankreich löst er sich gegen 21 Uhr vorerst auf, eine halbe Stunde lang scheint er verschwunden zu sein.
Von all dem ahnt man in diesem Moment in Pforzheim und dem Enzkreis nichts. Unwetterwarnungen, die auf solche Wetterphänomene hinweisen, gibt es damals noch nicht. Die Menschen stöhnen hingegen unter der drückenden Schwüle.
Die Pforzheimer ächzen unter der HitzeNiemand ahnt, was kommt
Gisela Sajak (22) hat an jenem Mittwochabend an der Volkshochschule in der Zerrennerstraße Englischunterricht. Als es immer mehr donnert und blitzt, wird der Unterricht abgebrochen, damit die Teilnehmer heil nach Hause kommen. Weil es so stark regnet, stehen Gisela Sajak und die anderen noch vor der Tür und warten.
Wie jede Woche ist Wolfgang Hohl (19) auch an diesem Mittwoch mit einem Freund auf ihrer Standardstrecke joggen. Wegen der drückenden Luft gehen die beiden nach ihrer Runde aber nicht wie sonst noch etwas trinken, sondern fahren nach Hause. Wolfgang Hohl ist allein in seinem Elternhaus in der Falkenstraße.
Hans Weidner (25) ist in diesen Minuten gerade auf dem Weg nach Hause. Über Keltern-Weiler fährt er mit seinem Käfer in Richtung Ottenhausen – zu seiner Frau und seinem vier Monate alten Kind.
Im Auge des tödlichen Wirbels
Zum AnfangWas geht hier vor sich?Die Ungewissheit
Endlich: Er steht vor dem Ortsschild. Ottenhausen – geschafft! Doch hier ist kein Durchkommen mehr. Balken, Heuballen, Ziegel und Kaminsteine liegen wild durcheinander gefegt auf dem Weg. Nichts geht mehr.
Ottenhausen-Rudmersbach trifft es am schlimmsten Unter Trümmern begraben
Ottenhausen-Rudmersbach trifft es am schlimmsten Unter Trümmern begraben
Ehe sie realisiert, welch zerstörerischer Wirbel draußen tobt, hört Frieda Nittel ein Geräusch. Sie geht die Treppe hinunter, um nachzusehen, was vor sich geht. In diesem Moment bricht das Haus über ihr zusammen...
So vermuten es die Nachbarn, die Familie Maili. Mit weiteren Helfern finden sie Frieda Nittel dort – unter den Trümmern begraben, mit Mauersteinen auf der Brust, durchnässt wegen einer geplatzten Wasserleitung. Doch sie lebt, ist noch bei Bewusstsein. Gemeinsam schaffen es die Nachbarn, die Frau zu befreien. Sie tragen sie hinaus. Zurück bleibt eine Ruine, die wenige Minuten zuvor noch Friedas Zuhause war. Der Tornado hat das oberste Stockwerk des Hauses komplett weggerissen.
Frieda Nittel wird in das Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gebracht und in der Garage abgelegt.
Hans Weidner kehrt in diesem Moment zurück in den unteren Ortsteil von Ottenhausen. Da er zum Zeitpunkt des Tornados noch unterwegs war, ist er in Ottenhausen-Rudmersbach in diesen Minuten der einzige, dessen Auto nicht durch die Luft gefegt, von umgefallenen Bäumen und Ziegeln versperrt oder gar zerstört wurde. Sein Wagen steht noch immer am Ortseingang – zum Glück. Gemeinsam legen die Helfer Frieda Nittel auf den Rücksitz seines Käfers. Die Verletzte bittet Hans Weidner, sie nach Neuenbürg ins Krankenhaus zu bringen. Doch dazu müsste Weidner genau die Tornado-Schneise überqueren – ein unmöglicher Plan. Das einzig realistische Ziel: das Städtische Klinikum Pforzheim.
Der Weg führt Hans Weidner über Weiler nach Ellmendingen, Gräfenhausen, Birkenfeld ins Brötzinger Tal. Er fährt über Balken und Steine. Vor dem Autohaus Baral ein Strommast, umgeknickt wie ein Streichholz. Leitungen liegen auf der Straße. Das Dach des Käfers wird komplett zerkratzt, als er sich seinen Weg hindurchschlägt. Doch er schafft es, weiterzukommen.
Das zweite Todesopfer
Drei Tage später wird das Ehepaar Nittel unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Die Feuerwehr trägt die Särge der beiden Opfer von der Kirche auf den Ottenhausener Friedhof. Die Betroffenheit ist riesig. Allen ist bewusst, dass es in jener Nacht genauso sie hätte treffen können.
Ottenhausen gleicht einem TrümmerfeldNichts bleibt verschont
Viele Fahrzeuge werden von dem Sturm umgestürzt, andere bis zu 200 Meter weit durch die Luft geschleudert. Zu Hunderten werden Bäume gefällt und Leitungen niedergerissen. Zahlreiche Ortsbewohner werden obdachlos, weitere später bei den Aufräumarbeiten verletzt.
Nachdem der Tornado durch Rudmersbach gerast ist, ist das Grauen aber noch nicht vorbei. Von dem Ottenhausener Ortsteil bahnt er sich seinen Weg weiter in Richtung Pforzheim.
Katastrophenalarm in Pforzheim Chaos, so weit das Auge reicht
Katastrophenalarm in Pforzheim Chaos, so weit das Auge reicht
Während der Tornado in der Innenstadt kaum Spuren hinterlässt, ist der Stadtgarten ein Trümmerfeld. Inmitten entwurzelter Bäume und zersplitterter Bänke bleibt nur Bismarcks Standbild unversehrt.
In der Friedenstraße reißt der Orkan eine Frau vom Balkon des zweiten Stockwerks und wirft sie auf die Straße – sie ist eine der insgesamt 80 Schwerverletzten. In der Sportkantine auf dem Buckenberg drückt der Tornado das Dach ein. Die Menschen darin sind eingeschlossen und können nur mit Mühe befreit werden.
"Nächtliche Unwetter-Katastrophe durch Tornado – Pforzheims südliche Stadtteile gestern Abend verwüstet – Viele Verletzte und vermutlich auch Todesopfer – Verheerende Schäden – Autos übereinander gewirbelt – Unter den Trümmern begraben" lauten die Schlagzeilen der "Pforzheimer Zeitung" in der Ausgabe vom 11. Juli 1968.
Weiter heißt es in der PZ: "Feuerwehr und Polizei sind im Großeinsatz. Noch um Mitternacht gellt das Martinshorn durch Pforzheims Straßen. Diese stehen zunächst vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Schutt und Bäume blockieren viele wichtige Verkehrswege, in der Bleichstraße sieht es aus, als ob Bomben niedergegangen wären."
Die Stadtverwaltung beginnt noch in der Nacht damit, mit kurzfristig zusammengestellten Aufräumtrupps besonders die Durchgangsstraßen von den umgestürzten Bäumen zu räumen.
Das Ausmaß des Schadens ist zunächst nicht zu überblicken. Alleine in Pforzheim sind über 1000 Haushalte von der Energieversorgung abgeschnitten, auch die Straßenbeleuchtung ist in Teilen der Stadt ausgefallen. Auch deswegen löst der damalige Oberbürgermeister Willi Weigelt erst um 1.50 Uhr Katastrophenalarm aus – gut vier Stunden nach dem Tornado. Anwohner werfen Autoscheinwerfer und Taschenlampen an, um die Schäden zu begutachten. Einziger Lichtblick: Der Mond leuchtet in dieser Nacht recht hell und macht es einfacher, sich im Dunkeln zurechtzufinden.
Trotzdem erkennt man erst am nächsten Morgen, wie katastrophal die Schäden sind – in Pforzheim und dem kurz zuvor vom Tornado heimgesuchten Gräfenhausen.
Was zurückbleibt, ist nichts als Zerstörung und Angst
Zum AnfangWas von Ottenhausen übrig bleibtIm Video halten Kurt Schönthaler, Reinhard Ahr und Oswald Pfrommer die Tage nach dem Tornado fest.
Der Tag danachDie meisten wissen nicht einmal, was passiert ist
Und doch hat ein Großteil der Bevölkerung in Pforzheim und dem Enzkreis am nächsten Morgen noch gar nicht mitbekommen, was sich am Abend zuvor in ihrer Nähe abgespielt hatte. Und wer am 11. Juli morgens ohne Radio zu hören oder Zeitung zu lesen zur Arbeit geeilt ist, wundert sich, dass viele Kolleginnen und Kollegen fehlen. Diese sind mit Aufräumarbeiten beschäftigt – oder können nicht kommen, weil Straßen unpassierbar sind.
Selbst für den Deutschen Wetterdienst ist der Tornado außergewöhnlich: "Der Pforzheimer Tornado hat bezüglich der Stärke ein deutliches Alleinstellungsmerkmal aus dem Grund, dass er physikalisch am oberen Anschlag dessen war, was bei uns tatsächlich möglich ist", sagt der Meteorologe Uwe Schickedanz. Der Tornado in Pforzheim erreichte auf der Fujita-Skala die zweithöchste Stufe 4.
Der lange Weg zurück in den Alltag
In Ottenhausen wird angepackt
Dachdecken, Nahrung, SpendenTausende Helfer im EinsatzAm Tag nach dem Unwetter leitet auch die Landesregierung Hilfsmaßnahmen ein. Die wichtigste Aufgabe ist das Reparieren der abgedeckten Dächer.
Die Stadtverwaltung ruft die Bevölkerung zu Blutspenden auf. Die Bereitschaftspolizei wird zur Unterstützung von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Rotem Kreuz und zivilem Bevölkerungsschutz abgestellt. Die auf dem Buckenberg stationierten französischen Husaren, ebenfalls vom Tornado betroffen, reihen sich in die Retterschar ein. Bundeswehr-Soldaten und Einheiten der US-Streitkräfte kommen hinzu.
Das DRK gibt täglich 6000 kalte und warme Essen aus. 150 Personen waren direkt nach dem Tornado obdachlos. Einige müssen bis zu drei Monate in provisorischen Unterkünften verbringen.
Groß ist die Spendenbereitschaft aus der Bevölkerung. Allein in Pforzheim kommen 1,3 Millionen Mark für Notleidende zusammen. Eine Ziegelspendenaktion des Süddeutschen Rundfunks bringt über 400.000 Mark.
Am 25. Juli wird der Katastrophenfall aufgehoben. Doch wochenlang strömen Schaulustige in die betroffenen Stadtteile.